Andreas Föhn
10. August 2024
Warum werfen Schweizerinnen und Schweizer silberne Kugeln auf ein rotes Bällchen?
Seit acht Jahren vermittelt uns der «FRW Zug Interkultureller Dialog» Menschen, die zu uns in den Unterricht an die Fachmittelschule Zug kommen und von ihren Erfahrungen als Asylsuchende berichten. Aber was passiert da eigentlich im Unterricht? Und was bringen und bewirken diese Besuche?
Die Fachmittelschule Zug besuchen Schülerinnen und Schüler, die später einmal Lehrerin oder Lehrer werden möchten, oder in der Sozialen Arbeit oder im Gesundheitswesen arbeiten möchten. Also alles Berufe, die mit Menschen zu tun haben. Im Unterricht behandeln wir deshalb Themen, die mit Menschen und unserem Zusammenleben zu tun haben. Eines dieser Themen ist Migration.
Beim Thema «Migration» geht es um die Frage, wer die Menschen sind, die in der Schweiz leben, aber nicht aus der Schweiz stammen. Es geht also um die Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Wir reden darüber, wie wir in der Schweiz die Beziehung zu den anderen europäischen Ländern gestalten. Die Schweiz liegt mitten in Europa, und wir müssen klären, wer aus der Europäischen Union in der Schweiz leben und arbeiten darf und welche Rechte wir Schweizerinnen und Schweizer im Gegenzug dafür erhalten. Wir schauen auch, wie unser Umgang mit den Menschen ist, die aus Not und Hoffnung zu uns kommen. Sei es als Flüchtlinge mit der Hoffnung auf Schutz und Asyl, sei es aus anderen Notlagen und auf der Suche nach einem besseren Leben.
Um nicht nur über Migration zu sprechen, als ob sie nur andere Menschen betrifft, schauen wir uns in der Klasse zunächst an, wo die Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und Grosseltern geboren sind. Dabei zeigt sich immer wieder, dass in jeder Schulklasse sehr viel Migration zusammenkommt: Es gibt kaum jemanden, dessen Familiengeschichte sich nur im Kanton Zug abgespielt hat. Und immer wieder gibt es Geschichten aus der ganzen Welt: Geschichten von Grosseltern, die im Zweiten Weltkrieg aus Polen flüchten mussten und Grosseltern die als junge Erwachsene aus Italien auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz gekommen sind. Väter die sich im Sprachkurs verliebt hatten und mit ihrer zukünftigen Frau aus Mexiko in die Schweiz gekommen sind und Eltern die während des Balkankriegs in die Schweiz geflüchtet sind. Schüler, die in Südafrika oder Russland auf die Welt gekommen sind und mit ihren Eltern nun hier wohnen, weil diese in der Schweiz arbeiten.
Im Unterricht vermitteln wir Lehrpersonen Wissen und Zusammenhänge. Wir erklären Fakten, Daten und Gründe, weshalb Menschen ihr Land verlassen wollen oder verlassen müssen. Wir zeigen gesellschaftlich umstrittenen Fragen und Probleme auf und thematisieren politische Diskussionen und Argumentationen, wie zum Beispiel wer in der Schweiz arbeiten darf oder hier Asyl erhält. Wir Lehrpersonen können allerdings keine persönlichen Erfahrungen vermitteln, insbesondere nicht zu Flucht und Asyl. Deshalb ist es für unsere Schülerinnen und Schüler sehr bereichernd und auch berührend, wenn dank der Unterstützung von «FRW Zug Interkultureller Dialog» am Ende jedes Kurses Menschen in den Unterricht kommen, die bereit sind, uns ihre persönliche Geschichte zu erzählen.
Wenn uns jemand im Unterricht besucht, gibt es eine Abmachung. Die Besucherinnen und Besucher dürfen so viel von sich erzählen, wie sie möchten, aber sie müssen nichts sagen. So hatten wir in den letzten Jahren Gäste aus Afghanistan und Eritrea, aus Iran und Ghana, Kurden und Ukrainer, Tschetschenen und Syrer, junge Erwachsene und gestandene Berufsleute, Einzelflüchtlinge oder Personen die mit ihrer Familie geflohen sind. Wir hörten von Ereignissen, die Menschen zur Flucht veranlasst haben, von Fluchtwegen zu Land und zu Wasser. Wir hörten vom Zufall, in der Schweiz ein Asylgesuch stellen zu können oder zu müssen, vom Warten auf einen Entscheid, von Hoffnungen und Enttäuschungen. Wir haben auch gehört, wie es ist, in anderen Ländern aufzuwachsen und zur Schule zu gehen. Und wir hörten von Beobachtungen über die Schweizerinnen und Schweizer und das Leben hier. So war ein junger Äthiopier erstaunt, dass im Bus niemand aufsteht, wenn eine ältere Person einsteigt, während es für ihn selbstverständlich wäre, ihr sogar die Einkaufstasche nach Hause zu tragen. Oder diese merkwürdige Beschäftigung der Schweizer, am See unten stundenlang mit silbernen Kugeln auf eine kleine rote Kugel zu werfen, hat einen Mann aus dem Irak doch sehr verwundert.
Nach meiner Erfahrung sind unsere Schülerinnen und Schüler sehr neugierig, aber oft auch etwas schüchtern. Sie sind sich bewusst, dass Menschen zu Besuch kommen, die viel und Schlimmes erlebt haben und dass es viel Mut braucht, sich vor einer fremden Schulklasse zu zeigen. In den Gesprächen nach dem Besuch stelle ich immer wieder fest, wie gut unsere Schülerinnen und Schüler zugehört haben. Dann merke ich auch, dass sie nicht nur für die Prüfung gelernt haben, sondern auch besser verstehen, was es heisst, auf der Flucht sein und Asyl zu suchen. Und manchmal fragen sie zurück: «Ihr habt im Unterricht dieses und jenes gesagt, aber die Besucherin hat etwas anderes erzählt. Wie ist das jetzt genau?» Für mich als Lehrer sind unsere Besucherinnen und Besucher sehr wertvoll, weil ich sehe, dass sich in der Begegnung mit ihnen unser Unterricht mit dem Leben in der Welt draussen verbindet. Und ich bin überzeugt, dass diese Besuche über die zwei Unterrichtslektionen hinauswirken, weil wir eine Begegnung mit Menschen erleben dürfen. So hoffe ich, dass wir auch in Zukunft mit der Unterstützung von «FRW Zug Interkultureller Dialog» auf diese bereichernden Begegnungen in unserem Unterricht zählen können.
Zum Autor: Andreas Föhn ist Lehrer für «Staat und Gesellschaft» an der Fachmittelschule Zug.
Der FRW fördert den Frieden in der Gesellschaft, den gegenseitigen Respekt und das Achten der Würde jeder Person.
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